Glockenturm am Olympiastation in Berlin
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Presse

Reinhard Appel, 1945 Soldat im Berliner Olympiastadion - "Die Kriegserinnerung ist nicht gelöscht, sie verblaßt"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.07.2006

Reinhard Appel war Intendant des Deutschlandfunks und Chefredakteur des ZDF. Er wurde 1927 geboren und wuchs in Berlin auf. Vor anderthalb Jahrzehnten machte er auf die Rolle von Carl Diem aufmerksam, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs im Olympiastadion Kinder und Jugendliche auf den Opfertod einstimmte und in die aussichtslose Schlacht um Berlin schickte.

Sie haben 1945 als Siebzehnjähriger Ihr Leben für die Verteidigung des Olympiastadions gegen die Rote Armee eingesetzt. Wie empfinden Sie es, daß dort das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen worden ist?

Das ist beruhigend und befriedigend, denn ich habe ja auch 1936 als neunjähriger Knirps die Olympischen Spiele miterlebt und die Fröhlichkeit und Atmosphäre genossen. Da ich in Spandau aufgewachsen bin, ganz in der Nähe also, sind wir oft im Olympiastadion schwimmen gegangen. Es gibt viele angenehme Erinnerungen, freilich auch die böse an die Rede von Carl Diem, die viele meines Jahrgangs in den Tod geführt hat.

War es Zufall, reines Glück, daß Sie selbst nicht den Endkampf-Phantasien der Nazis zum Opfer gefallen sind?

Ich habe während dieser Zeit drei Einberufungen erhalten, zuletzt nach Brandenburg an der Havel. Als ich dort erschien, war niemand mehr in der Kaserne; die zivile Wache sagte: Junge, geh nach Hause oder melde dich in Potsdam beim Ersatzbataillon des Infanterieregiments 9. Ich bin Soldat geworden und am 22. April an der Oderfront glücklicherweise in russische Gefangenschaft gekommen. Viele meiner Freunde, die in dem Hitlerjugend-Regiment auf dem Reichssportfeld geblieben waren, sind an den Havelbrücken gefallen.

Funktioniert Exorzismus durch Spaß? Kann der Sport den bösen Geist dieses Geländes austreiben?

Ich glaube, das kann gelingen. Mit dem Stadion sind auch schöne Erinnerungen verbunden, und es sind bei der WM wieder welche dazukommen. Das Stadion ist großartig renoviert worden. Die vielen Sportfeste bilden ein Gegengewicht zu den Tagen von 1945, als Ritter von Halt mit seinem Volkssturmbataillon und Carl Diem - der 62 Jahre alt war und sich freiwillig gemeldet hatte - mit der Hitlerjugend dort ihr Unwesen trieben.

Sie sind sehr präsent im Berliner Olympiastadion. In dem Dokumentarfilm zur Ausstellung sprechen Sie als Zeitzeuge. Warum eigentlich hat es erst der Fußball-Weltmeisterschaft bedurft, etwa die Langemarckhalle im Glockenturm, die Todeshalle der Nazis, mit einer solchen Ausstellung zu erklären und zu kommentieren?

Das ist eine berechtigte Frage, zumal man die pathetischen Aufforderungen zum Opfertod, die dort in die Wände gemeißelt sind, nach dem Krieg erneuert hat, als man den zerstörten Turm wiederaufbaute.

1960 bis 1962 geschah das, auf Kosten der Bundesregierung.

Als ob nicht wenigstens dieses verlogene Pathos hätte gestrichen werden können, das zum Tod vieler meiner Freunde geführt hat! Ich bin froh, daß ich aus dem Diem-Archiv die Skizze der Rede im Original habe und nun genau das Datum nennen kann: 18. März 1945, Volkssturmlehrgang. Da heißt es: "Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger für das Vaterland fällt."

Vor der WM ist der Streit um Architektur und Skulpturen wiederaufgeflackert. Wie stehen Sie dazu: Sind das Nazi-Gebäude? Ist das Nazi-Kunst, die dort steht?

Das alles paßte nahtlos in die Ideologie. Das germanische Volk sollte allen anderen Völkern überlegen sein. Das Stadion war zwar vorher geplant, aber Hitler hat die Ausführung beeinflußt, und die Ideologie ist in die Pläne eingeflossen. Die großen Standbilder sollten Achtung und Schrecken zugleich auslösen.

Geht von Architektur und Skulpturen Gefahr aus?

Nein. Dort sind so schöne Sportfeste gefeiert worden, daß die Erinnerung - nein: nicht gelöscht wurde, sondern verblaßt ist gegenüber dem Schönen, was man dort erleben konnte und noch erleben wird.

Die Fragen stellte Michael Reinsch.

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